Hrönir

Anmerkungen zum Stück

Der Idealismus von Jahrhunderten und Aberjahrhunderten ist an der Wirklichkeit nicht spurlos vorbeigegangen. So ist in den ältesten Gebieten von Tlön die Verdoppelung verlorener Gegenstände nichts Seltenes. Zwei Personen suchen einen Bleistift: die erste findet ihn und sagt nichts; die zweite findet einen zweiten nicht minder wirklichen Bleistift, der jedoch ihrer Erwartung besser angepasst ist. Diese Sekundärgegenstände heissen »hrönir« und sind, wenn auch anmutlos in der Form, um ein weniges grösser. Bis vor kurzem waren die »hrönir« Zufallskinder der Zerstreutheit und der Vergesslichkeit. Man sollte nicht glauben, dass ihre methodische Produktion nicht älter als knapp hundert Jahre ist, aber so steht es im elften Band. [...] Die methodische Züchtung von »hrönirs« (sagt der elfte Band) hat den Archäologen ungemeine Dienste geleistet. Sie hat die Befragung, ja die Veränderung der Vergangenheit ermöglicht, die heute nicht weniger bildsam und gefügig ist als die Zukunft. Ein seltsamer Umstand: die »hrönir« zweiten und dritten Grades - das heisst die »hrönir«, die von einem anderen »hrön«, sowie die »hrönir«, die vom »hrön« eines »hrön« abgeleitet sind - zeigen die Abweichungen von dem ursprünglichen in übertriebener Form; die »hrönir« fünften Grades sind nahezu einförmig; die neungrädigen vermischen sich mit denen zweiten Grades, bei denen vom elften Grad kommt es zu einer Reinheit der Linien, wie sie die Originale nicht besitzen. Der Vorgang ist periodisch; beim »hrön« zwölften Grades setzt bereits der Verfall ein. Merkwürdiger und reiner als das »hrön« ist manchmal das »ur«: das durch Suggestion erzeugte Ding, der von Hoffnung herangebildete Gegenstand. [...] In TIön verdoppeln sich die Dinge; sie neigen ebenfalls dazu, undeutlich zu werden und die Einzelheiten einzubüssen, wenn die Leute sie vergessen.

Jorge Luis Borges (aus: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, in Ficciones)

Bilder und Klangbeispiele

Druckgußrohmaterial Druckgußprodukte

Hörbeispiel: (reduziert auf Stereo)

Anmerkungen zur Realisation

Als Grundlage aller Klänge in diesem Stück diente eine längere Tonaufnahme einiger Druckgußmaschinen in einer kleinen Fabrikhalle, die ich vor einigen Jahren auf Einladung eines alten Schulfreundes gemacht habe. In Anlehnung an den Text von Borges habe ich in dieser maschinellen Geräuschtextur Klangereignisse gesucht, um mit diesen weiterzuarbeiten und darin neue, bessere, andere zu hören – keine objets trouvés sondern objets cherchés. Die Klangbearbeitungen umfassen Resonanzfilterung, verschiedene Manipulationen im Frequenzbereich (spectral gating, shifting, inversion, scrambling u.a.) sowie diverse algorithmische Wiedergabeprozesse des aufgenommenen Klangs. Viele der algorithmischen Bearbeitungen wurden mit SuperCollider3 durchgeführt, andere mit Hilfe der "long-time"-FFT-Software Mammut vom NOTAM. Abschließend wurde die bearbeiteten sowie die originalen Klänge in Nuendo arrangiert und gemischt.

Während der Tonaufnahmen in der Maschinenhalle habe ich mit der Videokamera gleichzeitig auch einige Nahaufnahmen beweglicher Maschinenteile bzw. von Produktionsabläufen angefertigt. Ein Teil dieser kurzen Videoclips mit jeweils typischen Bewegungsmustern dienten als Grundlage für die neue AV-Version von Encounters.